Europa? Da haben wir Wählerinnen und Wähler eh nichts zu sagen. Das Parlament in Straßburg ist rechtlos und lahm, die Mächtigen machen alles unter sich aus: Solche Vorurteile pflegen leider nicht nur populistische Rechtsparteien. Auch viele kritische Staatsbürger, die eher grün oder links denken, halten die EU für ein Elitenprojekt.

Ein nachvollziehbarer Grund dafür ist, dass die Ansprüche des Binnenmarktes allzu oft über das Gemeinwohl gestellt wurden. Ein weiterer: Köpfe, Konflikte und Skandale machen eher Schlagzeilen als Lösungen, die Nichtregierungsorganisationen und Parlamente in Brüssel längst miterstreiten.

Wie groß ihr Einfluss in Europa längst ist, das zeigt sich ganz aktuell an der Reform der Risikobewertung von Lebensmittelinhaltsstoffen. In der vergangenen Nacht einigten sich Mitgliedsstaaten und Parlament mit dem Gesundheitskommissar Vytenis Andriukaitis auf eine weitreichende Offenlegung jener wissenschaftlichen Studien, die den Zulassungsverfahren für chemische Zusatzstoffe, Pestizide oder gentechnisch veränderte Organismen zugrunde liegen. Dieser Kompromiss ist nicht nur ein Erfolg für Lebensmittelsicherheit und Natur, sondern auch für die europäische Demokratie. Besonders in diesem Jahr der Europawahl lohnt es sich, noch einmal zu rekonstruieren, wie die Einigung gelang – weil das politisch Mut machen kann.

Geheimhaltung wird die Ausnahme

Auslöser war die hitzige Kontroverse um Glyphosat. Das Unkrautvernichtungsmittel geriet 2015 als potenziell krebserzeugend in die Kritik. Die öffentlichen Erregungskurven darüber stiegen über Jahre auch deshalb steil an, weil die Behörden das Ackergift als sicher beurteilt hatten, allerdings in einem teilweise undurchsichtigen Zulassungsverfahren. Antragsteller aus der Industrie sollten nämlich bislang weitgehend selbst nachweisen, dass ihre Produkte unbedenklich sind. Dabei hätten Konzerne wie Monsanto ihre Studienergebnisse oft manipuliert, behaupteten Kritiker. Begründen konnten sie das oft nur anhand von Indizien, denn um Geschäftsgeheimnisse zu wahren, dürfen die Hersteller wichtige Studien unter Verschluss halten. Das Vertrauen in die Wissenschaft erlitt enormen Schaden.

Den neuen Regeln zufolge werden Agrar- und Chemiekonzerne künftig sehr konkrete Gründe anführen müssen, wenn sie um ihrer Marktposition willen Geheimhaltung fordern. Grundsätzlich bekommen alle Bürgerinnen und Bürger Zugang zu Studien und Informationen, die mit einem Zulassungsantrag eingereicht werden. Das heißt: Expertenkollegen können die Aussagen schon im Entscheidungsverfahren überprüfen. Das ganze Verfahren wird dadurch viel transparenter.

Und es gibt noch weitere Neuerungen: Die Unternehmen müssen ihre Tests frühzeitig bei der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) anmelden, damit unliebsame Ergebnisse nicht mehr so leicht zurückgehalten werden können. Die Kommission kann unabhängige Untersuchungen in Auftrag geben. Bei der EFSA sollen Vertreterinnen und Vertreter von Regierungen, EU-Parlament und NGOs stärker mitreden.

Brüssel reagiert auf Kritik

Solche Offenheitspflichten, so viel Beteiligung, ist vielen Forschern in der Agrar- und Chemieindustrie ein Graus. Sie fürchten Politisierung, Übertreibungen und Emotionen, wie sie in der Glyphosat-Debatte neben den berechtigten Zweifeln manchmal auch aufgekommen sind. Aber auch Verschwörungstheorien sind schneller entlarvt, wenn alle Daten auf dem Tisch liegen. Parlament und Ministerrat müssen die Entscheidung noch durchwinken, was nach einem Trilogverfahren als ziemlich sicher gilt.

"Wir haben den Ruf gehört", so kommentierte der EU-Kommissar Andriukaitis das Ergebnis, und es stimmt: Ohne das Engagement der Basis hätte es die neuen Transparenzregeln nicht gegeben. Europaweit haben Umwelt- und Gesundheitsschützer 1,3 Millionen Unterschriften für eines der ersten Bürgerbegehren in der Union gesammelt. Auch unter diesem Druck setzte das EU-Parlament einen Sonderausschuss ein. Dieses Komittee namens PEST hörte sich die verschiedenen Perspektiven der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Behörden, Industrie und Umweltschutzorganisationen an – und forderte anschließend die Kommission dazu auf, für mehr Transparenz und damit Vertrauen zu sorgen. Das angeblich so selbstbezogene, von der Industrielobby regierte "Brüssel" reagiert also durchaus auf Kritik und rückt Gemeinwohl und Wirtschaftsinteressen ins rechte Verhältnis.

Das kann auch bei anderen Themen klappen, vorausgesetzt Bürger und Bürgerinnen mischen sich tatsächlich ein. Der Erfolg bei der Lebensmittelsicherheit konnte nur erzielt werden, weil sich Umweltschützer und kritische Wissenschaftlerinnen durch Berge von Papieren gebissen, immer wieder nachgefragt und selbst Lösungsvorschläge eingebracht haben. Auf diese Ausdauerarbeit lassen sich viele Europaskeptiker gar nicht erst ein. Bleiben sie in der bequemen Zuschauerrolle, dann wird das Scheitern der europäischen Demokratie, das sie beklagen, zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung.